Kapitel 1
Mein Handy gibt einen leisen Ton von sich. Ich ziehe das Telefon zu mir heran und bemerke zum ersten Mal, welchen Tag wir heute haben. Heute vor zwei Jahren bin ich mit meiner Schwester aus Silver Creek nach New York geflohen. Ich wurde beim InStyle Magazin eingestellt, wo ich seither über Innenarchitektur berichte. Mein Leben sollte ursprünglich eine ganz andere Richtung nehmen. Am Tag, an dem ich Silver Creek verlassen habe, wollte ich die Liebe meines Lebens heiraten, stattdessen habe ich Christian Snow vor dem Altar stehen lassen. Ich wollte Bücher schreiben und zusammen mit meiner Mutter das Northern Lights Inn, ein Bed and Breakfast, führen und es irgendwann um ein Café erweitern. Seit ich in New York bin, habe ich meine Träume in einem kleinen Kästchen in meinem Herzen weggesperrt, wo sie darauf warten, irgendwann wieder hervorgeholt zu werden.
In meiner Brust breitet sich ein leichtes Brennen aus. Ich habe zwei lange Jahre versucht, Chris nicht mehr zu lieben, das Leben, das wir für uns beide vorgesehen hatten, zu vergessen. Aber der Schmerz in meinem Herzen erinnert mich daran, dass ich noch immer Gefühle für diesen Mann habe. Ich befinde mich noch immer auf der Flucht vor Christian Snow.
»Kelly möchte wissen, wie es heute gelaufen ist«, sage ich zu Liz.
Liz verdreht die Augen. »Schreib ihr: Es war kompliziert.« Liz lacht, denn kompliziert beschreibt nicht annähernd, wie schwierig die Arbeit mit der älteren Dame heute war.
»Das ist gelungen«, meint Liz und tippt auf eines der Fotos, die wir heute in einem Haus in der Fulton Street gemacht haben. Liz ist die Fotografin in unserem Zweiergespann und dafür verantwortlich, die Häuser und Apartments, die wir besuchen, in Szene zu setzen. Sie sitzt neben mir und geht mit mir die Aufnahmen durch, die sie heute gemacht hat. Liz hat den richtigen Blick. Sie setzt gekonnt die Details in Szene, die wichtig sind, um die Stimmung eines Raums einzufangen. Ihre Fotos wirken sehr ästhetisch und strahlen eine gewisse Ruhe aus. Sie sind die perfekte Untermalung für unsere gemeinsame Rubrik.
»Ja, das finde ich auch am schönsten«, bestätige ich. Ich verdränge das dumpfe Gefühl in meiner Brust und den Gedanken, dass Chris und ich heute unseren zweiten Hochzeitstag feiern würden. Stattdessen überlege ich mir, was ich zu diesem Bild eines sehr modernen, elegant in Schwarz und Weiß eingerichteten Wohnzimmers schreiben und in welchem Shop ich für unsere Leser ähnliche Möbel finden könnte.
Ich sehe auf, als ich die Stimme meiner Schwester höre. Sie geht gerade am Empfang vorbei und begrüßt Karen. »Ihr überzieht, Mädels«, zwitschert Holly, schafft sich etwas Platz auf meinem Schreibtisch und strahlt uns abwartend an. »Heute ist unser William’s-Abend, schon vergessen?« Holly kommt Liz und mich jeden Freitag in der Redaktion abholen. Sie wirft mir einen abschätzenden Blick zu. Sie macht sich Sorgen, aber das muss sie nicht, bis eben wusste ich nicht einmal, welcher Tag heute ist, weil ich viel zu beschäftigt mit meiner Arbeit war. Ich setze ein Lächeln auf und signalisiere ihr damit, dass es mir gutgeht.
»Wir sind gleich so weit. Du kommst noch rechtzeitig, um mit dem fast verheirateten Barkeeper unserer Stammkneipe zu flirten.«
»Muss ich dich daran erinnern, dass du auch schon einmal fast verheiratet warst? Fast ist nur eine andere Bezeichnung für gar nicht. Und das bedeutet, er ist Single«, wirft Liz ein und wackelt mit ihrem Handy vor meiner Nase herum.
»Autsch«, stößt Holly hervor und lächelt mich mitleidig an.
»Single wäre er, wenn er keine Freundin hätte.«
»Eine Freundin zählt nicht«, werfen Liz und Holly gleichzeitig ein. Liz steht von ihrem Bürostuhl auf und schnappt sich ihre Handtasche. »Wir können.«
Ich schüttle grinsend den Kopf, gehe rüber zu meinem Schreibtisch, wo Holly mir schon meine Handtasche entgegenhält. »Weißt du, was gut ist?«
»Nein«, sage ich, obwohl ich schon ahne, was jetzt kommt, denn diesen Satz leiert sie jeden Freitag runter. Ich gehe neben Liz und Holly her zum Fahrstuhl und winke Nelly, der Redakteurin für Erotisches zum Abschied, als wir an ihrem Schreibtisch vorbeikommen. Die Redaktion ist nicht besonders groß. Wir sind kein Magazin mit einer riesigen Auflage, aber wir alle arbeiten gerne hier wegen der familiären Atmosphäre. Trotzdem wünsche ich mir manchmal eine Arbeit, die mir mehr Zeit lassen würde, um das Kästchen in meinem Herzen zu öffnen und vielleicht doch endlich an meinem ersten Roman schreiben zu können.
»Dass das Büro nur einen Block vom William’s entfernt ist und unsere Wohnung nur einen halben Block von unserer Stammkneipe.«
»Aha«, mache ich gedehnt. Damit will Holly sagen, dass wir uns heute Abend nicht zurückhalten müssen.
Im William’s ist es um diese Zeit noch leer, die meisten Gäste kommen erst in ein paar Stunden. Wir suchen uns einen Platz ganz hinten in einer Ecke und bestellen Martinis.
Auf dem Flatscreen, der an der hinteren Wand über den Billardtischen hängt, laufen die Sportnachrichten. Frank Hamilton, einer von Chris’ Teamkollegen, gibt ein Interview. Da der Ton stumm geschaltet ist, kann ich nicht verstehen, was er sagt. Aber ich bin mir sicher, dass es um den Beginn der neuen Saison geht.
Ich versuche, alle Nachrichten über Chris und seine Mannschaft irgendwie zu umgehen, was nicht immer leicht ist. Eine gute Methode ist jedoch, einfach keine Sportnachrichten anzusehen und einen Bogen um Zeitungen, Magazine und die Klatschpresse zu machen. So habe ich es geschafft, so gut wie überhaupt nichts über die Red Hawks oder Chris zu erfahren. Einmal kam ich an einer Meldung, um eine heiße Affäre nicht herum. Chris hatte eine Beziehung mit Hannah Wallace, dem Hollywoodsternchen. Als die beiden zusammenkamen, war es unmöglich, den Meldungen zu entkommen. Als sie sich nach sechs Monaten wieder getrennt haben, war es noch viel unmöglicher. In dieser Zeit kam es mir vor, als würde mich die Welt Spießruten laufen lassen. Manchmal habe ich mir sogar gewünscht, ich könnte einfach in ein Land fliehen, in dem sich niemand für Eishockey interessiert. Oder Hannah Wallace. Seither hatte Chris mehrere kurze Beziehungen. In den Stanley Cup Finals hat Chris sich verletzt und ist im letzten Drittel ausgeschieden; auch an dieser Nachricht kam ich nicht vorbei. Mom hat mir vor ein paar Wochen am Telefon davon erzählt, aber es stand auch in übergroßen roten Buchstaben auf dem Cover des Sports Magazins.
»Also dann«, sagt Liz und hebt ihr Glas. »Auf wen oder was trinken wir heute?« Dieses Spiel spielen wir schon, seit wir uns an dem Tag kennengelernt haben, an dem Kelly mich eingestellt und mich anschließend in diese Bar eingeladen hat. Immer, wenn wir zusammen ausgehen, dann trinken wir auf etwas oder jemanden. Warum wir das tun, wissen wir nicht mehr. Es ist einfach etwas, das zu einer Tradition geworden ist. Wir haben schon auf Seal getrunken, weil er es so lange mit Heidi Klum ausgehalten hat. Wir sind überzeugt davon, dass der Mann Nerven aus Stahl haben muss. Wir haben auch schon darauf getrunken, dass Indien die Haltung von Delfinen in Gefangenschaft gesetzlich verboten hat.
»Danny Slater«, sage ich und zeige auf den Fernseher, auf dem nun Danny Slater in Bermudas zu sehen ist.
Liz und Holly drehen sich um und stöhnen laut auf.
»Oh ja«, seufzt Holly. »Jeder Muskel an diesem Mann ist es wert, begossen zu werden. Ist euch schon aufgefallen, dass dieser Surferboy mit jedem Jahr, das er älter wird, noch heißer aussieht?«
»Verdammt, ich will ihm diese Wassertropfen von der Brust lecken«, jammert Liz.
Ich lache laut auf. »Nur von der Brust?«
Liz wirft mir einen bedeutungsschwangeren Blick zu, auf ihre Lippen stiehlt sich ein breites Grinsen.
»Also auf, Mädels. Das wird eine lange Nacht, fangen wir mit seinem rechten Bizeps an?«, will Holly wissen.
»Erst diese Lippen und dann arbeiten wir uns nach unten durch.« Liz hebt ihr Glas und wir stoßen mit unseren an.
»Auf Danny Slaters Lippen!«, rufe ich kichernd und stelle mir vor, wie diese vollen Lippen sich wohl auf meinen anfühlen würden. Vielleicht ein wenig so wie die von Chris. Er war der erste Mann, den ich je geküsst habe, und irgendwie vergleiche ich jeden anderen mit ihm. Und in den letzten Jahren hatte ich schon die ein oder andere Gelegenheit zu einem Vergleich. Meine Erfahrungen nach Chris beschränken sich auf zwei feste Beziehungen von etwa einem Jahr – beide habe ich von mir gestoßen, als sie anfingen, von Zusammenziehen zu reden –, und einen One-Night-Stand mit dem Sänger einer Metal-Band nach einer ziemlich feuchten Nacht im William’s.
»So, nachdem wir das erledigt haben, und bevor wir uns dann an Dannys Körper weiter nach unten arbeiten, wisst ihr, was jetzt folgt.« Hollys Augen funkeln vor freudiger Erwartung, als sie zur kleinen Bühne deutet, auf der erst ab 20 Uhr abends unbekannte Bands spielen. Bis dahin wartet eine Karaoke-Anlage darauf, die schrägen Töne der Gäste in die Welt zu entlassen, was man nur selten wirklich als Spaß bezeichnen kann.
»Offen gestanden, habe ich heute keine Lust«, murmle ich mit angespannten Schultern. Auch meine Stimme ist kein Spaß für jemanden, der wert auf seine Hörfähigkeit legt. Und da ich mich ungern unbeliebt mache, vermeide ich es, mich auf diese Bühne zerren zu lassen.
»Du hast doch nie Lust«, entrüstet sich Holly.
»Ich bin ja auch die Einzige von uns, die nicht singen kann. Ich bleibe hier sitzen und jubele euch zu, um die Stimmung anzuheizen.«
»Welche Stimmung?«, will Liz wissen und sieht sich auffordernd in der Bar um. »Wir sind fast allein.«
Ich nicke zu einem Mann etwa Mitte dreißig, der am Nachbartisch sitzt und vor sich hinstarrt. »Er sieht auch ohne mein Gekrächze schon sehr leidend aus. Ihnen geht es doch nicht gut, oder? Sie sind traurig?«, rufe ich zum Nachbartisch hinüber.
Der dunkelhaarige Mann sieht auf und mustert mich, bevor er breit grinst. »Es würde mir besser gehen, wenn ich rüberkommen dürfte.«
Ich sehe zu Holly und Liz auf. »Seht ihr, ich muss Seelsorgerin spielen, oder wollt ihr es riskieren, dass der hübsche Kerl euretwegen unglücklich bleibt?«
»Nein, das geht natürlich auf gar keinen Fall«, sagt Holly. »Wenn die Chance besteht, dass du etwas von deiner sexuellen Frustration heute Abend im William’s zurücklässt, dann werden wir dem nicht im Weg stehen.«
Lächelnd stehe ich von meinem Stuhl auf, schiebe mich an Liz und Holly vorbei und gehe zum Nachbartisch. »Sie haben mich gerade vor einer großen Peinlichkeit bewahrt. Jetzt müssen Sie mit mir etwas trinken, damit die beiden es sich nicht doch noch anders überlegen.«
Der breitschultrige Mann hebt einen Mundwinkel zu so etwas wie einem Bad-Boy-Lächeln nach oben, steht auf und zieht mir einen Stuhl zurück. »Dann will ich mal nicht so sein und spiele heute Ihren Helden«, sagt er und wirkt schon nicht mehr so traurig.
»Wie nett«, sage ich provokativ. »Ein Gentleman also? Wo waren Sie nur in den vergangenen zwei Jahren?« Ich setze mich und er nimmt mir gegenüber Platz, legt beide Hände um sein Bierglas und sieht mich mit kraus gezogener Stirn an.
»In der Hölle, bei Satan persönlich. Und glaub mir, der Teufel ist eine Frau, meine Ex-Frau.«
»O, das tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Mein Konto und ich sind darüber hinweg. Schleppst auch du ein ›Ex‹ mit dir herum?« Er mustert mich abwartend aus seinen grauen Augen. Irgendwie kommt mir sein Gesicht bekannt vor. Wahrscheinlich habe ich ihn hier schon einmal gesehen.
»Habe ich, aber um ehrlich zu sein, die Geschichte habe ich verbockt. Ich bin übrigens Noelle«, füge ich an, als mir einfällt, dass wir uns noch nicht einmal vorgestellt haben.
Er nimmt die Hand, die ich ihm hinhalte, und drückt sie fest. »John, aber die meisten nennen mich Walker.«
Mein Mund klappt fassungslos auf, als mir klar wird, wen ich da vor mir habe. »John ›Walker‹ Simmons? New York Giants?«
Walker lacht laut auf, wahrscheinlich, weil ich ihn so ungläubig anschaue. Aber das muss man mir verzeihen, denn irgendwie scheine ich immer wieder an Eishockeyspieler zu geraten. Jede Beziehung, die ich bisher geführt habe, habe ich mit einem Hockeyspieler geführt. Holly wirft mir schon vor, das mit Absicht zu machen, um Chris irgendwie zu ersetzen. Aber es ist eher so, als wolle das Schicksal mich bestrafen, denn ich bin Andy House beim Joggen im Central Park begegnet und Will Jackson hier in dieser Bar. Und beide Male hatte ich keine Ahnung, dass sie Eishockeyspieler sind. Zu meiner Verteidigung sollte ich vielleicht erwähnen, dass beide auch keine Profis waren und nur in ihrer Freizeit in kleinen Vereinen gespielt haben.
»Du magst Eishockey wohl nicht?«, hakt er nach.
»Ich komme aus Alaska, da muss man Eishockey mögen. Aber ich habe mit Spielern irgendwie kein Glück.«
»Ich auch nicht«, sagt er grinsend. »Spielst du?« Er sieht mich musternd an. »Ich will mich nur darauf einstellen können, ob sich aus dem hier eine Chance ergeben könnte. Die Gelegenheit zur Rettung einer attraktiven Frau bekomme ich nicht jeden Tag.«
Ich weiche nervös seinem Blick aus. »Nein, ich spiele nicht. Ich bin eher Zuschauer.« Früher zumindest, füge ich in Gedanken an.
»Also, welche Mannschaft findest du gut, Noelle?«, will er wissen und beugt sich interessiert näher über den Tisch. Dabei sieht er mir tief in die Augen.
Ich werde mich einfach treiben lassen. Dieser Mann sieht gut aus. Ich finde ihn sympathisch und anziehend. Klar, er ist Eishockeyspieler, aber da ich derzeit nichts Festes suche, ist das doch ein Vorteil. So weiß ich jetzt schon, sollte sich aus diesem wirklich harmlosen Treffen etwas entwickeln – wovon man zum jetzigen Zeitpunkt absolut noch nicht ausgehen kann –, dass es nicht von Dauer ist. Und mehr muss ich gerade nicht wissen.
»Stoney River Huskies«, platze ich heraus. Auch zwei Jahre nach unserer Trennung sind die Huskies das erste Team, das mir einfällt, wenn ich an Eishockey denke. In jedem Winter, seit Chris alt genug war, auf Kufen zu stehen, habe ich am Rand des zugefrorenen Tulukskoya Lakes gestanden und den Huskies beim Spielen zugeschaut. Die Huskies liegen mir im Blut, so wie sie wohl jedem in Silver Creek und Red Devil im Blut liegen. Es würde mich wundern, wenn Walker mit den Huskies etwas anfangen könnte, andererseits ist er ein NHL-Spieler.
»Noch nie gehört.« Still und heimlich atme ich erleichtert auf. Ich habe schon befürchtet, in ein Fettnäpfchen getreten zu sein.
Ich grinse breit. »Dachte ich mir. Das ist eine kleine Regionalmannschaft aus Silver Creek. Mit den meisten Spielern bin ich zusammen aufgewachsen.«
»Warte! Silver Creek, Alaska! Da klingelt was bei mir.« Er legt nachdenklich den Kopf schief und ich spanne mich an. Natürlich klingelt da was bei ihm, schließlich ist er Eishockeyspieler. Und auch wenn die Spieler sich nicht alle persönlich kennen, die meisten von ihnen kennen zumindest die Hintergrundinfos all ihrer Gegner. Ein guter Spieler lernt alles über seinen Gegner, hat Chris immer gesagt. Ich spanne jeden Muskel an und bereue, jedes Wort, das ich von mir gegeben habe. Ich kann es nur auf den Alkohol schieben. Hoffentlich kommt er nicht drauf.
»Chris ›Hunter‹ Snow, Seattle Red Hawks. Klasse Stürmer.«
Ich zucke zusammen und versuche verzweifelt, nicht rot zu werden. Aber das gelingt mir offensichtlich nicht, denn Walkers Augen blitzen auf, als er meine Reaktion bemerkt. Wieso kann ich auch meine Klappe nicht halten? Auf sein Gesicht tritt ein wissendes Lächeln, dann nickt er, zieht eine markante Augenbraue hoch und reibt sich über die dunklen Stoppeln in seinem Gesicht.
»Silver Creek. Du bist die Unbekannte, die den Hunter vor dem Altar hat stehen lassen. Niemand ist an dieser Geschichte vorbeigekommen.«
Ich schlucke heftig, nicke dann aber. Es zu leugnen, würde die Situation nur noch unangenehmer machen. Jedes Mal, wenn dieser Teil meiner Vergangenheit in den Medien zum Thema wurde, habe ich versucht, mir nichts anmerken zu lassen. Für Chris ist die Geschichte im Laufe der letzten Jahre zu einem Running Gag geworden. Er wird immer wieder darauf angesprochen und macht mit Reportern und Teamkollegen seine Witze darüber. Ich selbst fühle mich nicht annähernd so wohl damit, wie er es offensichtlich tut. Dass das Ende unserer Beziehung über die Zeit so präsent in den Medien geblieben ist, ist ein weiterer Grund dafür, dass ich die Nachrichten und Klatschspalten meide.
»Schuldig.«
Johns Gesicht wird ernst, er nimmt einen großen Schluck von seinem Bier.
»Sind deine Haare deswegen jetzt knallrot. Ich kann mich an einen Artikel erinnern, in dem warst du blond?«
Ich beiße mir mit glühenden Wangen auf die Unterlippe. Als Chris zum ersten Mal von einem Reporter auf uns angesprochen wurde, war er noch nicht so freigiebig mit seinen Informationen. Der Mann hatte davon in Silver Creek erfahren. Nach Chris’ erstem Spiel sind einige Paparazzi und Sportreporter in der Stadt aufgetaucht. Sie sind über Mom und das B&B hergefallen und haben sie fast in den Wahnsinn getrieben. Bis sie aus lauter Verzweiflung verraten hat, dass ich jetzt in New York lebe und für InStyle arbeite. Ein Reporter hat heimlich Fotos von mir gemacht, mir vor der Redaktion oder unserem Apartment aufgelauert. Ich habe mich geweigert, mit ihm zu reden, aber er hat seinen Artikel trotzdem veröffentlicht. Und dann kamen noch mehr Paparazzi. Und plötzlich wurde ich auf der Straße wiedererkannt. Also habe ich mir die Haare gefärbt. Irgendwann hat sich die Situation wieder beruhigt, aber meine Haare habe ich so rot wie die Hydranten in New York gelassen.
»Damit hat es angefangen«, gestehe ich. »Ich bin dabei geblieben, weil ich die Farbe mag.«
Er lächelt sanft. »Ich mag sie auch.«
»Ihr unterhaltet euch gut?«, platzen Holly und Liz in unser Gespräch. Sie setzen sich nach ihrem Auftritt auf die beiden leeren Stühle. Ich war so abgelenkt, dass ich nicht einmal mitbekommen habe, zu welchem Song sie gesungen haben.
»Das tun wir«, sagt John lächelnd. »Noelle ist eine interessante Frau.«
Holly grinst mich zufrieden an. Noch hat sie ja auch keine Ahnung, dass ich schon wieder einen Eishockeyspieler an der Angel habe.
Kapitel 2
»Post aus Silver Creek«, murmelt Holly mit schwerer Zunge und sieht mich verwundert an, als sie den Brief aus unserem Briefkasten holt.
Ich nehme ihn ihr aus der Hand und mustere den Umschlag, während wir beide mit wackligen Schritten auf den Fahrstuhl zusteuern. »Von Elaine? Wieso schreibt sie uns einen Brief, sie kann uns doch auch anrufen?«, sage ich, als wir in den Fahrstuhl steigen und Holly die Taste für die siebte Etage drückt, in der wir ein gemeinsames Apartment bewohnen.
Holly zuckt mit den Schultern und summt leise die Titelmelodie einer Fernsehserie vor sich hin. »Vielleicht funktioniert das Satellitentelefon mal wieder nicht. Oder es ist was Hochoffizielles«, raunt Holly geheimnisvoll. Sie kramt kichernd in ihrer Handtasche und stößt einen erleichterten Schrei aus, als sie endlich den Schlüssel zu unserem Apartment findet. Wir haben es schon beide am selben Tag geschafft, unsere Schlüssel in der Wohnung zu vergessen. Seitdem haben wir einen Ersatzschlüssel unten beim Portier liegen, der sich so auch schon einmal als unser Retter in der Not erwiesen hat.
»Ich habe gestern erst mit Mom telefoniert.« In Silver Creek gibt es keinen Handyempfang. Internet empfängt man nur über Satelliten. Dank Elon Musk und Starlink funktioniert das recht zuverlässig. Aber eben nicht immer. Nur mag sich nicht jeder in Silver Creek mit moderner Technik auseinandersetzen, also gibt es nur das Northern Lights Inn, das Gemeindehaus und den Laden, die überhaupt darüber verfügen.
»Vielleicht ist nur Elaines Telefon kaputt und sie hatte uns etwas so Wichtiges mitzuteilen, dass sie es auf die altmodische Art versuchen wollte«, schlägt Holly noch immer kichernd vor. Mit leichten Koordinationsproblemen schließt Holly die Tür auf. Sie wirft ihre Handtasche lustlos auf den Boden im kleinen Flur und hängt ihre dünne Strickjacke unordentlich auf einen Haken in der Garderobe. Ich hänge meine Sachen daneben und folge Holly in unser Wohnzimmer, in dem nicht viel mehr Platz ist, als für ein kleines weißes Ikea-Sofa, einen Sessel, einen niedrigen Tisch und eine Kommode, auf der ein kleiner Fernseher steht.
Ich lasse mich neben meine Schwester auf die Couch fallen und halte ihr den Brief vor die Nase. »Lies du ihn, ich bin nicht bereit, mich mit einem Silver-Creek-Drama auseinanderzusetzen.«
»Das bist du doch nie«, seufzt Holly und steckt sich eine Haarsträhne hinter die Ohren. Entschlossen öffnet sie den Umschlag, und das reißende Geräusch des Papiers jagt mir einen winzigen Schauer über den Rücken. Sie faltet den Brief auseinander und sieht mich fragend an. »Bist du jetzt bereit?«
Ich schüttle den Kopf. »Lies vor!«, sage ich mit mulmigem Gefühl in der Magengegend. Irgendwie hatte ich nicht damit gerechnet, jemals wieder etwas von jemand anderem als Mom zu hören. Mit allen anderen Einwohnern von Silver Creek hatte ich längst abgeschlossen. Vielleicht nicht wirklich, denn mir ist klar, dass irgendwann der Tag kommen wird, an dem ich mich mit ihnen allen auseinandersetzen muss. Ich kann mich ja nicht für immer hier verkriechen. Irgendwann will ich meine Mutter auch mal wiedersehen und sie nicht nur am Telefon sprechen.
Holly räuspert sich und holt tief Luft, bevor sie zu lesen beginnt.
Liebe Noelle, liebe Holly,
wir, die Einwohner von Silver Creek, wissen um Eure Sorgen, die Euch davon abhalten, zurückzukehren in die Stadt, in der Ihr aufgewachsen seid. Leider müssen wir Euch nun aber darüber in Kenntnis setzen, dass eine Rückkehr unabdingbar geworden ist. Das Northern Lights Inn befindet sich in einem bedauernswerten Zustand, was laut Stadtsatzung eine Zuwiderhandlung der öffentlichen Ordnung ist. Kurz: Das Bed and Breakfast ist ein Schandfleck im Antlitz der Stadt und muss dringend renoviert werden. Außerdem ist es das einzige Hotel der Stadt und derzeit geschlossen, was es schwierig macht, Kurzzeitarbeiter oder auch Besucher unterzubringen. Eure Mutter ist erkrankt und kann sich nicht so um das B&B kümmern, wie es nötig wäre.
Wir müssen Euch darauf hinweisen, dass Verstöße gegen die Stadtverordnung empfindliche Strafzahlungen zufolge haben können, weswegen wir Euch eindringlich darum bitten, Euch um Eure Angelegenheiten in Silver Creek zu kümmern.
Mit freundlichen Grüßen
Bürgermeisterin Elaine North
Wir starren uns beide erschrocken an. Zurück nach Silver Creek? Weder für Holly noch für mich ist das gegenwärtig eine Option. Ich bin noch nicht bereit und Holly steht kurz vor ihrem Abschluss. Ich sehe es in ihrem Gesicht, ihr steht der Widerwille ins Gesicht geschrieben. Sie fährt sich mit beiden Händen durch ihre blonden Locken und stöhnt laut auf.
»Wir sollten jemanden beauftragen«, schlägt Holly vor. »Niemand sagt, dass wir das Problem nicht von hier aus lösen können.«
Ich ziehe herausfordernd eine Augenbraue hoch. »Mom ist kein Problem, das wir lösen können. Und wir wissen beide, selbst wenn wir sie fragen, wird sie uns nicht die Wahrheit sagen. Ich kann nicht fassen, dass sie uns verheimlicht hat, dass sie krank ist.« Mein Herz zieht sich panisch zusammen und ich drücke eine Faust auf meine Brust. »Denkst du …« Ich stocke, weil ich es nicht aussprechen will.
»Krebs?« Holly schluckt und leckt sich über die Lippen. Sie wirkt besorgt, schüttelt aber doch den Kopf. »Nein, das würde sie uns nicht verheimlichen, niemals.«
Ich lehne mich gegen die weichen Kissen zurück und schließe die Augen. Etwas muss uns einfallen. »Aber wenn doch … wir müssen fliegen«, werfe ich ein. Mein Herz beginnt jetzt vor Panik zu rasen. Ich fühle, wie das blanke Entsetzen sich meine Wirbelsäule hoch frisst. Ich kann im Augenblick nicht sagen, wovor ich mehr Angst habe. Davor, zu erfahren, dass unsere Mutter wirklich ernsthaft krank ist. Oder vor der Tatsache, dass meine Flucht jetzt nach zwei Jahren beendet ist und ich mich dem stellen muss, was ich getan habe.
»Und wenn wir Mom herholen und das Northern verkaufen?«, überlegt Holly.
»Mom wird sich niemals damit einverstanden erklären. Nein, keine Chance. Und welcher Makler verirrt sich schon freiwillig nach Silver Creek, um ein heruntergekommenes B&B zu verkaufen, das die Bürgermeisterin als Schandfleck bezeichnet? Ich glaube nicht, dass Makler nichts verdienen wollen. Wahrscheinlich muss er oder sie drei Kinder, zwei Hunde, einen Ehepartner und eine Affäre durchfüttern.« Ich kichere und sehe wieder auf. »Die Möglichkeit, dass das Northern nie verkauft wird, ist leider groß. So groß wie die Möglichkeit, dass wir Mom niemals dazu bringen werden, zu uns nach New York zu ziehen.«
Wer in Silver Creek könnte denn schon Interesse an einem Bed & Breakfast haben? In dieser Stadt gibt es einen deutlichen Überhang an Männern. Und diese Männer leben dort als Holzfäller, Abenteurer, Tagelöhner und Jäger oder arbeiten für die Mine. »Ich brauche etwas zu trinken«, sage ich, stehe auf und gehe hinüber in die kleine Küche, um uns eine Flasche Weißwein zu holen. Ich öffne die Flasche und schenke uns reichlich in zwei große Rotweingläser ein. Der Brief hat mich schlagartig ausgenüchtert und ich kann unmöglich über Silver Creek und Alaska nachdenken, wenn ich nüchtern bin. Ich stelle die Gläser auf dem niedrigen Tisch ab und setze mich in den Sessel, der dieses herrliche saftige Petrolblau hat. Ich greife hinter mich und nehme das gelbe Kissen mit der Stickerei des Eiffelturms auf meinen Schoß, wo ich anfange, es zu würgen, bevor ich mich selbst ermahne und meine Hände zu Fäusten balle, um mich davon abzuhalten, das unschuldige Kissen weiter zu malträtieren.
»Ich sage es nur ungern, aber eine von uns muss nach Alaska fliegen und nach Mom sehen.« Und möglichst auch die Sache mit dem Northern Lights Inn regeln. Ich stöhne laut auf und trinke mein Weinglas hastig leer. In meinem Kopf dreht es sich. Die Gedanken wirbeln durcheinander und ich fühle mich hilflos.
»Vielleicht rufen wir sie besser erstmal an und fragen, wie es ihr geht«, wirft Holly ein und greift sofort nach ihrem Handy.
»Es ist mitten in der Nacht. Außerdem, wenn sie uns bisher nichts gesagt hat, wird sie es jetzt auch nicht tun.«
Holly wählt trotzdem. Sie stellt den Lautsprecher an, sodass ich mithören kann. Es klingelt eine gefühlte Ewigkeit lang, bis irgendwann der Anrufbeantworter anspringt: »Sie haben das Northern Lights Inn angerufen, leider haben wir aktuell geschlossen. In dringenden Notfällen wenden Sie sich an die Verwaltung der Stadt Silver Creek oder an das Aurora Bliss B&B in Red Devil.«
»Das Northern ist geschlossen«, wende ich beunruhigt ein. »Es stimmt also. Deswegen hat Elaine einen Brief geschrieben, um es hochoffiziell zu machen. Wir sollen wissen, dass sie es ernst meint.«
»Was nicht bedeutet, dass es Mom wirklich schlecht geht. Wahrscheinlich hat sie sich ein paar Tage freigenommen und schläft entspannt in ihrem Apartment.« Im oberen Stockwerk des B&B gibt es eine Wohnung, in der sind Holly und ich aufgewachsen. Mom bewohnt sie jetzt allein. Manchmal vergisst sie einfach, das Telefon mitzunehmen, wenn sie abends nach oben geht. Aber die Bandansage ist neu und klingt tatsächlich, als wäre das Northern geschlossen. Wieso hat sie nichts gesagt, als wir miteinander telefoniert haben? Diese Tatsache beunruhigt mich noch mehr. Was könnte ihr passiert sein? Befindet sie sich am Ende in einem Krankenhaus in Anchorage? Aber hätte Agnes uns dann nicht Bescheid gegeben? Agnes ist die Schwester unserer Mutter.
»Wir sollten fliegen«, sage ich noch einmal.
»Ich muss in vier Tagen mein Capstone-Projekt präsentieren.« Holly wirkt plötzlich ganz grün im Gesicht. Sie hat wirklich hart dafür gearbeitet. Das Capstone ist das Abschlussprojekt ihres Studienlehrgangs. Sie hat seit Monaten eine Kollektion dafür entworfen und eine Modenschau vorbereitet. Es ist so etwas wie ihre Abschlussprüfung. Jetzt nach Alaska zu fliegen, würde einer Aufgabe gleichkommen. Das kann niemand von ihr verlangen.
»Ich fliege allein. Du darfst das nicht verpassen«, sage ich entschlossen, habe aber ein mulmiges Gefühl. Ich bin nur ein einziges Mal seit damals zurückgeflogen und das endete damit, dass jemand von der Presse davon erfahren hat und jeder in Silver Creek sich meinetwegen mit Fotografen herumschlagen musste. Sie hatten eine Weile schon genügend Presse in der Stadt, wenn Chris seinen Vater besucht hat. Mittlerweile hat sich das beruhigt, hat Mom uns erzählt. Ein ungutes Gefühl habe ich trotzdem noch immer. Das Interesse an mir hat seit einer Weile abgenommen. Ich hoffe, dass das auch für Silver Creek gilt. Ich möchte ungern noch einmal daran schuld sein, dass die Presse wieder über Mom herfällt.
»Ich denke nicht, dass Elaine uns belügen würde. Nicht, was das betrifft«, meint Holly und wischt sich besorgt über die Wangen. Ich fluche leise und schenke mir nach. Holly greift nach ihrem Glas, leert es und hält es mir zum Auffüllen hin.
»Ich habe wirklich kein Bedürfnis danach, all die Menschen wiederzusehen, die Zeugen meiner Flucht im Brautkleid waren.« Ich lache dumpf auf und leere mein Glas. »Dann sollte ich wohl mal einen Flug buchen.« Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass Chris ebenfalls in Silver Creek ist, um seinen Vater zu besuchen. Mein Magen rebelliert bei der Vorstellung, ihm begegnen zu können.
Ich nehme das mit dem Eiffelturm bestickte Vintagekissen und werfe es Holly an den Kopf. Sie fängt es lachend auf und wirft es zurück. Ich lege das Kissen auf meine Knie zurück und sehe meine Schwester ernst an. »Was, wenn ich auf Chris treffe?« Nur seinen Namen zu erwähnen, bringt mein Herz schon dazu, mir bis in den Hals zu klopfen.
Holly winkt ab, dann sieht sie mich aber doch mitleidig an. »Er wird gar nicht in Alaska sein. Wahrscheinlich vermöbelt er den Jets den Hintern, während du in Silver Creek bist. Außerdem hast du seit heute Abend einen neuen Eishockeychamp an deinem sexy Hintern.« Sie verdreht gespielt die Augen.
»Habe ich nicht. Wir hatten ein paar Drinks, haben geredet …«
»… eure Nummern ausgetauscht«, wirft Holly ein.
»Das hat nichts zu bedeuten. Er wird sich wahrscheinlich nie bei mir melden. Er hat sie sich wohl nur aus Höflichkeit geben lassen.« Ich sehe Holly mit einem breiten Grinsen an. »Wahrscheinlich nur, um damit angeben zu können, dass er die Frau getroffen hat, die Chris vor dem Altar hat stehen lassen.«
»Du übertreibst. Er war hin und weg von dir.«
»War er nicht. Aber er war sehr interessiert an meiner Geschichte mit Chris.«
Vielleicht ist es sogar gut, dass ich jetzt gezwungen bin, nach Silver Creek zurückzukehren. Jetzt muss ich endlich die Konsequenzen für mein Handeln tragen. Als ich das letzte Mal da war, war keine Zeit, um mich zu stellen. Ich bin schon nach zwei Tagen wieder geflohen, um die Paparazzi so von meiner Mutter wegzulocken. »Die Red Hawks haben in der letzten Saison den Stanley Cup gewonnen.«
»Na wenigstens hat er dann gute Laune, wenn er dich sieht. Und irgendein Fangirl am Arm«, fügt sie an.
»Vielen Dank auch. Was ich eigentlich sagen wollte, er wird viel zu beschäftigt sein, oder?«, werfe ich seufzend ein.
Ich atme erleichtert aus, als ich mir selbst klarmache, dass Chris unmöglich in Silver Creek sein kann. Von Mom weiß ich, dass er trotz seiner Karriere sehr häufig in Silver Creek ist. Immer dann, wenn er ein paar Tage Zeit hat. Was der andere Grund war, warum ich mich überhaupt nicht nach Hause gewagt habe, denn ich wollte ihm nicht begegnen. Ich habe mich zu sehr vor dieser ersten Begegnung gefürchtet. Ich weiß, wie falsch mein Verhalten war. Aber ich war einfach zu schwach und nicht bereit für den Schmerz, der mich einholen würde, sobald ich in seine wundervollen waldgrünen Augen blicken würde.
Holly steht mit mitleidigem Blick auf, läuft um den Tisch herum und setzt sich auf die Armlehne des Sessels. Sie nimmt meine Hand in ihre und küsst meinen Handrücken. »Bestimmt hast du recht. Soll ich nachsehen, wie sein Spielplan für die nächsten Wochen aussieht? Die Saison startet wieder.«
Ich sehe zu ihr auf. »Nein, lieber nicht. Du weißt, ich will so wenig wie möglich über ihn wissen.« Ich habe Holly strikt verboten, sich im Internet nach ihm zu erkunden. Und da sie nie etwas gesagt hat, hat sie meinen Wunsch wohl auch respektiert. Seit wir beide in New York sind, ist Eishockey für uns beide nur noch eine ferne Erinnerung.
Meine Schwester lacht, rutscht auf meinen Schoß und schlingt ihre Arme um meinen Hals. »Ich weiß, und ich halte mich daran und sonst auch jeder, den wir kennen.«
Ich winke ab. »Du konzentrierst dich auf deine Präsentation. Ich melde mich bei dir und werde dir jedes Detail berichten«, ergebe ich mich seufzend und ziehe Holly an mich, um sie zu umarmen.
»Hoffen wir, dass es Mom nicht so schlecht geht, wie es dieser Brief andeutet«, murmelt sie in mein Haar. »Ach ja, für den Fall, dass du Chris doch triffst, solltest du irgendwas mit deinem Haar machen. Er bekommt einen Schock, wenn er diese Farbe sieht.«
Kapitel 3
Ich habe den Flug so gebucht, dass ich Mittwoch in Anchorage ankomme. Sobald ich aus dem Flughafen heraustrete, suche ich mir ein Taxi und lasse mich zu dem Charterflughafen am Rande der Stadt fahren. Von hier aus fliegt einmal in der Woche die kleine Cessna nach Silver Creek, bis sie am Montag darauf wieder nach Anchorage fliegt. Bevor Dad mit seiner Maschine östlich von Silver Creek abgestürzt ist, hat er die Stadt und die umliegenden Gemeinden versorgt. Deswegen fühlt es sich ein wenig merkwürdig an, Henry die Hand zu schütteln und zu ihm in die kleine Maschine zu steigen. Als Kind bin ich so oft mit Dad zwischen Anchorage und Silver Creek hin und her geflogen, dass ich eine Weile darüber nachgedacht habe, auch zu fliegen. Dann hätten Dad und ich uns den wichtigsten Job der Stadt teilen können, und ich hätte ihm etwas von seiner Last abnehmen können.
»Du bist gut beladen«, sage ich zu Henry, schnalle mich an, setze die Kopfhörer auf und nicke ihm zu, sobald ich flugbereit bin.
»Das Übliche«, sagt er knapp. »Schön, dich zu sehen. Du hast dich kaum verändert.« Henry war noch nie sehr gesprächig. »Bis auf die Haarfarbe«, fügt er mit verwundertem Blick an. Wir werden nur etwa 30 Minuten in der Luft sein. Henry ist vor ein paar Jahren mit seiner kleinen Cessna Citation auf dem winzigen Rollfeld zwischen Red Devil und Silver Creek gelandet und hat sich auf diese Art für den Job beworben, den mein Dad bis zu seinem Absturz hatte. Er ist so schweigsam, dass bis heute eigentlich niemand weiß, woher er kam und was er bis dahin gemacht hat. Und damit ist er einer der wenigen festen Bewohner der Stadt, über den niemand irgendetwas weiß. Nun, vielleicht weiß Elaine als Bürgermeisterin etwas mehr über ihn. Aber sonst kennt nicht einmal jemand sein genaues Alter. Ich schätze ihn auf Ende vierzig.
»Du dich auch kaum«, sage ich und versuche, mich zu entspannen. »Nun ja, vielleicht ein paar graue Strähnen, aber sie stehen dir«, füge ich nervös an. Ich habe es Henry zu verdanken, dass Holly und ich damals so schnell und unauffällig aus Silver Creek verschwinden konnten. Er hat uns beide ohne zu fragen, aber mit einem Dauergrinsen im Gesicht nach Anchorage geflogen. Wahrscheinlich hat die halbe Stadt ihm danach ihre ungefragte Meinung ins Gesicht geschleudert. Ich kam nie dazu, ihn zu fragen.
Die Maschine hebt ab und ich sehe nervös aus dem Fenster. »Ich sollte mich wahrscheinlich bei dir entschuldigen. Also für damals«, setze ich an und starte damit, meine gedankliche Liste abzuarbeiten, die ich mir angelegt habe und auf der alle Menschen stehen, von denen ich glaube, dass sie eine Entschuldigung verdient haben. »Ich habe dich damals wahrscheinlich in eine unangenehme Lage gebracht.«
Er grummelt etwas, das ich nicht verstehe, trotz dass wir über die Sprechanlage miteinander verbunden sind. Die Maschine wackelt in der Luft, sackt ein paar Meter ab, als sie in ein sogenanntes Luftloch gerät. Eigentlich sind diese Luftlöcher keine Luftlöcher. Es sind thermische Winde, die die Turbulenzen verursachen. »Es war den Ärger wert, den ich hatte«, sagt er nur und wirft mir einen flüchtigen Seitenblick zu. »Genau genommen war es mir ein Vergnügen und ich stehe dir jederzeit für weitere so unterhaltsame Unternehmungen zur Verfügung.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Eigentlich hatte ich nicht vor, so bald zurückzukommen«, gestehe ich und verschweige, dass ich ziemlich gut weiß, dass ich viel früher hätte zurückkommen sollen, um mich bei allen zu entschuldigen. »Elaine hat uns geschrieben. Was weißt du über meine Mutter? Geht es ihr sehr schlecht?«
Henry sieht mich wieder flüchtig an, dieses Mal ist seine Stirn gerunzelt. »Die Situation strengt sie wohl etwas an, aber Carol bekommt das hin. Sie wird sich bestimmt freuen, dich zu sehen. Weiß sie Bescheid?«
»Nein, wir konnten sie nicht erreichen.«
»Dann wird sie wohl ziemlich überrascht sein.« Und schon setzt Henry zur Landung an. Die Rollbahn ist nicht besonders groß und besteht im Wesentlichen aus einer schmalen Schneise, die in den Wald geschlagen wurde. Sie ist die einzige Fläche, die im Winter frei von Schnee gehalten wird, sodass die Maschine jederzeit starten und landen kann, denn die Cessna ist unsere wichtigste Verbindung zur Außenwelt, und damit zu allem, was wir zum Überleben hier draußen benötigen.
»Ich habe versucht das Charterflugzeug zu bekommen, das die Touristen und Saisonarbeiter bringt, aber es war nicht zu buchen für die nächste Zeit«, sage ich verwundert. Es ist ein kleines Flugzeug, in dem bis zu 12 Passagiere Platz finden. Es fliegt etwa einmal in der Woche, bei schlechten Bedingungen auch nur alle zwei Wochen. Da es aber so leicht wie die Cessna ist, kann es zuverlässiger nach Silver Creek kommen und abfliegen, als die große Frachtmaschine, die die Stadt beliefert.
»Ist im Moment schwierig für Carl, die Mine ist geschlossen und du hast es ja gehört, das B&B ist in Schwierigkeiten. Und Elaine hat angeordnet, dass Anflüge mit ihr persönlich abgesprochen werden müssen.«
»Verstehe ich, Touristen in die Stadt zu lassen, wenn es keine Übernachtungsmöglichkeiten gibt, wäre blöd. Zum Glück bin ich kein Tourist ist kenne dich persönlich«, werfe ich lachend ein.
Mein Magen schlägt ein paar Kapriolen. Nicht wegen der Landung, denn die meistert Henry mit Leichtigkeit. Sondern wegen der Tatsache, dass ich jede Sekunde mit den ersten Bewohnern von Silver Creek konfrontiert werde, denn unten am Rand der Rollbahn stehen zwei Transporter bereit, die die Waren aus der Cessna erwarten. Ich atme tief durch und bereite mich innerlich auf den zweitschlimmsten Tag meines Lebens vor.
»Die Braut, die sich nicht traut«, brüllt Dimitri über die Rollbahn, als er mich erkennt. Dimitri lebt schon in Silver Creek, solange ich denken kann. Er kam als Saisonarbeiter und ist als Barbesitzer geblieben. Seine Eltern stammten aus Rumänien und sind in den Achtzigern mit ihrem Sohn in die USA eingewandert. »Ich traue wohl meinen Augen nicht«, fügt er noch an, bevor er in seinen Transporter steigt und das Auto näher an die Cessna fährt.
Ich atme noch einmal tief ein und wende mich Henry zu, der mir meinen Rollkoffer reicht. Ächzend hebe ich ihn aus der Cessna und stelle ihn auf der Rollbahn ab. Meinem Magen geht es jetzt noch viel schlechter, denn nun bin ich hier. Und jetzt ist es so weit, ich muss mich den Konsequenzen meiner Flucht stellen. Auch wenn ich die Entscheidung selbst bis heute nicht bereuen kann, denn an Chris’ Erfolg kann jeder sehen, dass ich richtig gehandelt habe. Chris’ Traum ist in Erfüllung gegangen. Das Einzige, was ich bereue, sind die Menschen, die ich verletzt und enttäuscht habe. Wozu leider auch Chris gehört, und dass ich so lange gewartet habe, um mich bei allen zu entschuldigen. Da ich dieses Mal wahrscheinlich länger als nur zwei Tage hier sein werde, werde ich den Einwohnern dieser Kleinstadt kaum entkommen können.
»Du bist hier«, begrüßt mich die Fahrerin des zweiten Transporters. In ihren himmelblauen Augen blitzt etwas auf, das ich nicht deuten kann, aber um ihre faltigen Mundwinkel herum zuckt ein breites Grinsen. »Bist du gekommen, um dein Chaos aufzuräumen?« Agnes mustert mich von oben bis unten, während sie darauf wartet, dass ich ihr antworte. Ihr Blick gleitet mit einer Mischung aus Enttäuschung und Verwunderung über mich.
»Ich bin hier, um nach Mom zu sehen«, antworte ich meiner Tante. Trotz des etwas unterkühlten Empfangs, spüre ich ein Flackern in meiner Brust, als ich in Agnes’ Augen sehe. Denn ich sehe in die Augen meiner Mutter. Agnes ist die ältere Schwester meiner Mutter. In den vergangenen Jahren haben wir gelegentlich miteinander telefoniert, aber es blieb immer irgendwie frostig zwischen uns, denn sie konnte mir nie verzeihen. Ihrer Meinung nach, habe ich einen Fehler begangen, den ich mein Leben lang bereuen werde. Weil ich den besten Mann auf diesem Planeten verlassen habe. Was unverzeihlich ist. Außerdem habe ich meine Mutter im Stich gelassen. Und ich weiß, dass sie recht hat. Meine Mutter vor den Paparazzi schützen zu wollen, ist nicht Grund genug, um so lange fernzubleiben.
»Wird auch Zeit«, murmelt sie. »Zwei Töchter und keine ist dort, wo sie hingehört. An der Seite ihrer Mutter. Verfluchte Schande ist das. Du bist jetzt 26, Mädchen, wird Zeit, dass du Verantwortung übernimmst.« Sie wendet sich von mir ab und klopft Dimitri auf die Schulter, der Henry dabei hilft, die ersten Kisten aus der Cessna in den Transporter meiner Tante zu laden. »Hast du alles bekommen?«
»Alles abgehakt auf der Liste«, sagt Henry. Die meisten Kisten werden direkt am Terminal für Silver Creek angeliefert und müssen dann nur noch in die Maschine geladen werden, aber ein paar Sachen muss Henry jedes Mal auch selbst in Fairbanks oder Anchorage zusammensuchen.
Nach wenigen Minuten haben wir beide Transporter beladen und ich sitze neben Agnes auf dem Beifahrersitz. Ich tippe angespannt mit einem Finger auf meinem Oberschenkel herum, atme mehrmals tief durch und kämpfe mit dem Drang, vor Agnes in Tränen auszubrechen. Auf einmal schlagen alle Erinnerungen, mein schlechtes Gewissen, das Gefühl, nach Hause zurückgekehrt zu sein und die Angst um meine Mutter wie eine meterhohe Welle über mir zusammen.
»Mädchen, deine moosgrünen Augen sehen aus, als würdest du gleich anfangen zu heulen. Tu das bitte nicht in meinem Auto, mein Tag ist schon mies genug. Lass uns einfach beschließen, dass es gut ist, dich hier zu haben. Und den Rest vergessen wir eine Weile und verschieben es auf einen Zeitpunkt, an dem wir alle uns besser damit fühlen.«
Ich schluchze verzweifelt auf und meine Hände beginnen zu zittern. »Okay«, krächze ich verlegen. »Ist es schlimm?«, bringe ich dann raus.
»Keine Ahnung, von was genau redest du denn?«, will sie wissen und fährt die Rollbahn runter und auf die schmale Straße, die zugleich auch die einzige wirkliche Straße ist, die in Silver Creek existiert. Sie führt geradewegs durch die Stadt hindurch und auf der anderen Seite weiter nach Red Devil, das elf Meilen flussaufwärts liegt. Red Devil ist die letzte Stadt am Fluss. Danach führt er mitten hinein in endlose Waldgebiete und Berge.
»Mom«, stoße ich besorgt aus.
»Am besten fragst du sie das allein. Ich setze dich direkt vor der Tür ab und dann fahre ich zum Laden und erledige meinen Kram, während du deinen erledigst. Wir sehen uns dann zum Abendessen«, erklärt sie. Sie sieht zur Seite, ihr Blick wird sanfter, dann zupft ein trauriges Lächeln um ihre Mundwinkel herum. »Das wird schon alles werden.«
»Okay«, gebe ich mit belegter Stimme von mir. Ich hoffe, Agnes hat recht, aber besser fühle ich mich noch nicht. Das werde ich erst können, wenn ich weiß, dass mit Mom wirklich ›alles werden‹ wird.
Silver Creek besteht zum Großteil aus einfachen länglichen Holzhäusern. Ein paar haben zwei Etagen, die meisten aber nur eine Etage. Die Stadt wirkt mehr wie eine wild zusammengewürfelte Siedlung, die ohne einen Plan in die Landschaft geworfen wurde. Es gibt Agnes’ Laden, in dem die Bewohner so ziemlich alles finden, was sie benötigen. Angefangen bei Lebensmitteln, Werkzeugen, Büchern, Medikamenten und Pflegeprodukten. Hier befindet sich auch eins der Satellitentelefone, eins von drei Funkgeräten mit größerer Reichweite und ein Computer mit Starlink-Internet. Es gibt Dimitris Bar, den Polar Bear Grill, gleich neben Hannahs Frieseursalon, das Gemeindehaus, in dem sich auch das Büro des Sheriffs befindet, das aber zumeist unbesetzt ist, weil Sheriff Hoyd sich um mehr als zehn Gemeinden in der Umgebung kümmern muss. Und dann ist da noch das Northern Lights Inn, das größte Gebäude der Stadt. Und ja, es ist in einem jämmerlichen Zustand. Es war schon nicht besonders hübsch, als Holly und ich gegangen sind, aber in den letzten beiden Jahren hat es noch mehr von seiner Farbe verloren, eine Stufe ist eingebrochen, ein Regenrohr ist lose und lehnt mit dem oberen Ende am Dach über der kleinen Veranda. Ein Teil der Dachrinne blockiert die Sicht aus einem der oberen Fenster.
Das sind deutlich mehr Schäden, als ich mir vorgestellt habe, denn zum größten Mangel hat bisher immer nur die überalterte Einrichtung und die blätternde Fassade gezählt. Ich nehme meinen Rollkoffer und laufe unsicher auf den Eingang zu. Sogar das Schild vor dem Haus, auf dem die Worte Bed and Breakfast kaum noch leserlich stehen, ist irgendwann in den vergangenen Jahren einfach umgekippt und lehnt jetzt an der Wand neben der Tür.
Ich setze vorsichtig einen Fuß auf die untere Stufe, teste ihre Tragfähigkeit, und als ich sicher bin, dass ich nicht noch ein weiteres Loch hinterlassen werde, wage ich mich nach oben. Hinter der Scheibe in der Tür klebt ein Zettel, auf dem in eiliger Schrift geschrieben steht, dass das B&B bis auf Weiteres geschlossen ist und derzeit nur noch ein Bett im Aurora Bliss B&B in Red Devil frei ist.
Bevor ich die Tür öffne, schließe ich die Augen, atme tief ein und wappne mich für alles, was mich noch erwarten wird. Aber egal, wie schlimm das Northern auch aussehen mag, ich fürchte mich mehr davor, meine Mutter gleich zu sehen. Ich schicke ein kurzes Gebet zum Himmel, drücke die Türklinke nach unten und betrete das Northern Lights Inn.