All The Reasons To Forget You

Kapitel 1 (Leseprobe)

Es regnet. Ausgerechnet heute regnet es in Baytown, Texas. Dabei hätte meine Mutter sich blauen Himmel und lächelnde Gesichter gewünscht. Sie hätte sich bunte Kleider, nette Gespräche und Kuchen gewünscht. Was sie nicht gewollt hätte, sind Tränen, Mitleid und ein Pfarrer, der für sie die gleichen Worte benutzt wie vor einem Jahr für meine Freundin Sally. So war Mom eben. Eine fröhliche Frau von 39 Jahren, die viel zu früh gestorben ist. Meine Freundin und die einzige, die es geschafft hatte, mich aus dem schmerzhaften schwarzen Loch zu ziehen, in das der schreckliche Tod von Sally mich gestoßen hatte. Wer zieht mich jetzt aus dem Loch, in das mich Moms Tod gerissen hat?

Ich zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen, weil ich Mom nicht enttäuschen will, und starre auf die bunten Blumen, die den hellen Sarg schmücken, den meine Mutter sich selbst ausgesucht hat. Sie hat sich auch die Blumen und ihren Grabstein ausgesucht, auf dem in goldener Schrift »Mary Graham, Mutter und Freundin« steht. Nicht, wann sie geboren und auch nicht, wann sie gestorben ist. Sie wollte, dass die Menschen sich nur an das erinnern, was sie ausgemacht hat: Mutter und Freundin. Nicht an die Krankheit, die sich innerhalb weniger Monate durch ihren Körper gefressen hat.

Noah nimmt meine Hand und zieht mich näher an seine Seite. Seine Hand fühlt sich genauso klamm an wie meine. Er legt seinen Arm um meine Schultern, um mich zu trösten. Aber ich löse mich eilig wieder von ihm, weil der Kloß in meinem Hals nur schmerzhafter wird, wenn jemand versucht, mich zu trösten. Und ich will nicht weinen. Nicht eine einzige Träne. Nicht solange ich hier an ihrem Grab stehe. Vielleicht später, heimlich in meinem Bett, wenn sie es nicht sehen kann. Bei dem Gedanken schüttle ich meinen Kopf. Sie ist tot, sie kann es auch jetzt nicht sehen. Und wir hatten nur sechs Monate, um uns voneinander zu verabschieden.

»Fuck Cancer«, hat sie gesagt, als sie es erfahren hat und dann gelächelt und einfach weitergemacht, so gut es ging. Sie wollte nicht, dass sich irgendetwas für uns ändert. Weswegen sie auch auf eine Chemo verzichtet hat, um noch so viel Zeit wie möglich mit mir verbringen zu können, ohne sich tagelang übergeben zu müssen. Ich war deswegen wütend auf sie und bereue es, weil meine Sturheit uns wertvolle Wochen gekostet hat.

Als ich merke, dass ich nicht mehr lächle, zwinge ich meine Mundwinkel wieder nach oben, straffe die Schultern und konzentriere mich auf den Pfarrer, der noch immer darüber spricht, wie sehr wir alle sie vermissen werden. Wie viel Glück sie in unser aller Leben gebracht hat. Und wie wertvoll sie für uns alle war. Ich atme die feuchte warme Luft ein, die der Regen und die nahe Trinity Bay in mein Gesicht drücken und wische wütend über mein Sommerkleid, das unangenehm an meiner Haut klebt.

Unsicher hebe ich den Blick zu dem Mann, der auf der anderen Seite des Grabs mir gegenüber steht und immer wieder zu mir sieht, als würde er jede Bewegung, jeden Atemzug von mir studieren. Er trägt einen schwarzen Mantel und starrt ernst auf das Loch vor seinen Füßen. Seine Hände sind gefaltet und er schaukelt langsam von seinen Fersen auf seine Fußballen und zurück, so dass sein Mantel um seine Waden schwingt. Regenwasser läuft ihm über das Gesicht, das emotionslos und konzentriert wirkt. Ich habe ihn vor vier Jahren zum letzten Mal gesehen. Damals waren seine Haare noch rabenschwarz, jetzt sind sie grau an den Seiten und er trägt einen Schnauzbart. Als er meinen Blick auf sich bemerkt, sieht mein Vater auf und lächelt mir zu, aber ich ignoriere seinen Versuch, auf welche Art auch immer, eine Verbindung zu mir zu suchen. Er hat Mom und mich verlassen. Seither hat er mich nur ein einziges Mal besucht. Er war nicht einmal hier, als ich ihn am meisten gebraucht hätte. Als wir beide ihn gebraucht hätten. Und jetzt soll ich mit ihm gehen? Mit einem Fremden? Mein Leben und meine Freunde zurücklassen?

Noah stößt mich an und deutet auf die kleine Schaufel, die in einem Berg frischer tiefschwarzer Erde steckt. Ich nehme sie ganz mechanisch, ohne wirklich darüber nachzudenken, und werfe etwas davon auf den Sarg. Als die Erde auf das weiße Holz mit den bunten Blumen trifft, gibt es ein dumpfes Geräusch, das mich sämtliche Muskeln anspannen lässt und ein unangenehmes Kribbeln in meinen Nervenenden auslöst. Ich werfe Dreck auf meine Mutter. Der Gedanke erschüttert mich so sehr, dass ich aufschluchze, aber ihr zuliebe fange ich mich sofort wieder. Ich schließe die Augen, atme tief ein und summe in Gedanken irgendeine Melodie, die ich mir gerade einfallen lasse, nur um nicht zuhören zu müssen, wie weiter Erde auf den Sarg fällt. Ich komme mir vor, wie ein kleines Kind, das sich die Ohren zuhält, um nicht zuhören zu müssen, während es wegen irgendetwas ausgeschimpft wird. Aber ich schaffe es, so die nächsten Minuten auszublenden. Trotzdem bin ich froh, als es endlich vorbei ist und wir gemeinsam den Friedhof verlassen. Ich kann nicht viel länger hier stehen und gegen den Druck in meiner Kehle ankämpfen. Ich muss hier weg, bevor ich meine Mutter enttäusche. 

»Jetzt nehmen wir uns was von dem Kuchen, den Mrs Ward vorbeigebracht hat, und verstecken uns in eurem Garten. Auf die Beleidsbekundungen kann ich gut verzichten«, sage ich möglichst munter zu Noah und schiebe meine Hände in die Seitentaschen des geblümten Sommerkleides. Ich habe es angezogen, weil meine Mutter es gehasst hätte, mich heute in schwarz zu sehen. Eigentlich ist Schwarz sogar meine Lieblingsfarbe, weswegen ich mir dieses Kleid aus Moms Schrank nehmen musste. Die meisten meiner Sachen sind schwarz. Und Kleider besitze ich so gut wie keine.

Ich mustere Noah von der Seite. Ich weiß nicht, wie ich die letzten Tage ohne ihn überstanden hätte. Ohne ihn und seine Eltern. Sie haben mir sogar die unangenehme Aufgabe abgenommen, einen Leichenschmaus veranstalten zu müssen. Ich hasse dieses Wort. Wieso heißt das so? Es klingt, als würden alle um einen Tisch herumsitzen und den Verstorbenen verspeisen. Beerdigungskaffee, Trauerkaffee, Leidessen, Leichenmahl, Raue, Trauerbrot, Tröster, Umtrunk oder Reuessen sind andere Bezeichnungen dafür, ich habe es gegoogelt. Kein Wort ist wirklich besser. Wenn ich darüber auf meinem Blog schreiben würde, würde ich es Abschiedsessen nennen. Oder Mom zuliebe eine Abschiedsparty.

»Ich bestehe darauf, dass wir ganz viel Sahne draufmachen«, meint Noah im gleichen Plauderton, den auch ich angeschlagen habe. Er und auch ich wissen, dass wir innerlich nicht so unbeschwert sind, wie wir dem jeweils anderen vormachen wollen. Aber das ist okay. Noah ist mein bester Freund, schon solange ich denken kann. Er, Sally und ich waren unzertrennlich, als Sally noch lebte. Wir haben alles zusammen gemacht, obwohl Noah zwei Jahre älter ist als wir anderen. Manchmal haben wir uns mitten in der Nacht heimlich getroffen und sind zur Bay gelaufen, um unter den Sternen zu liegen und dem Rauschen des Wassers zu lauschen. Noah hat seine Gitarre mitgebracht und uns vorgespielt, während wir an unserem kleinen Lagerfeuer saßen. Das haben wir seit Sallys Tod nicht mehr getan.

»Ich fahr mit euch«, meint Liam gleichgültig und holt zu uns auf. Liam ist Noahs jüngerer Bruder. Ich bin auch mit ihm befreundet, aber nicht so eng wie mit Sally oder Noah. Liam war schon immer ein bisschen anders, irgendwie nervig. Jetzt ist er nicht mehr ganz so nervig, dafür oft abweisend oder aggressiv. »Ich komme mit euch«, wiederholt er noch einmal, als weder ich noch Nach auf ihn reagieren. Es ist genau dieser düstere, ernste Tonfall, den er seit Monaten von sich gibt. Als könnte er gar nicht mehr anders, als müde und lustlos zu sein. Wahrscheinlich kann er das auch nicht, weil er noch immer gefangen in seiner Trauer ist. Ich habe ihn schon lange nicht mehr lachen sehen. Er kann mitten in einer Gruppe lachender Menschen stehen, ohne auch nur mit den Mundwinkeln zu zucken. Als hätte er verlernt, zu lachen. Wir anderen versuchen zumindest noch zu lachen, das beste aus dem zu machen, was das Leben uns bietet. So schwer das für mich in den letzten Monaten auch war.

Wir bleiben neben Noahs altem Ford Mustang stehen, mehr als bereit, den Friedhof endlich zu verlassen, als jemand in der Nähe leise meinen Namen ruft. Ich weiß, wer es war, noch bevor ich mich zögerlich umdrehe und frustriert die Lippen aufeinanderpresse. Mein Vater sieht mich abwartend an, seine Hand liegt auf dem Türgriff des Wagens, den er sich am Flughafen ausgeliehen hat, um für die kurze Zeit seines Aufenthalts in Baytown mobil zu sein. Er verzieht ungeduldig das Gesicht, als ich keine Anstalten mache, zu ihm rüber zu gehen. Ich kann nicht sagen, dass ich ihn hasse, aber ich mag ihn nicht. Ich gebe ihm die Schuld an so Vielem, was in meinem Leben nicht so lief, wie ich es mir hätte gewünscht. Und mir ist bewusst, dass er nicht an allem Schuld ist. Er kann nichts für Sallys Tod, nichts für Moms Krankheit und auch nichts dafür, dass ich noch immer nicht weiß, ob ich ein College besuchen möchte oder lieber nicht. Aber er ist schuld daran, dass ich ohne ihn durch die schlimmsten Zeiten meines Lebens gehen musste. Er hat mich im Stich gelassen.

»Du solltest mit ihm reden, Emma«, drängt Noah und berührt mich sanft an der Schulter.

»Ich weiß«, stoße ich seufzend aus. Ich senke den Blick auf meine Schuhe, als könnte das meine Füße dazu bringen, sich zu bewegen, aber sie fühlen sich an, als wären sie mit der geteerten Straße verschmolzen. Die letzten Tage mit ihm waren anstrengend. Wir haben unter dem gleichen Dach geschlafen, sind gemeinsam Moms Sachen durchgegangen und haben den Papierkram erledigt, der nach dem Tod eines Menschen so anfällt. Aber wir haben kaum miteinander geredet. Ich atme zitternd ein und sauge Kraft in meine Lunge, die ich an meine Füße weiterleite, bevor ich es schaffe, einen unsicheren Schritt zu machen. Und danach noch einen. Und noch einen. Bis ich wenige Schritte vor ihm stehen bleibe.

Die Leute sagen, ich hätte meine seegrünen Augen mit dem dicken, mitternachtsblauen Rand von ihm, aber das stimmt nicht, denn seine Augen sind viel dunkler, sie gleichen eher dem dunklen Wasser in der Bucht. Ganz hinten, dort wo Boote nicht hinkönnen, weil zu viele Baumwurzeln die Bucht unbefahrbar machen. Das Grün seiner Augen ist eher schlammig, während meins saftig ist. Ich mag die Farbe meiner Augen. Unsere Augen unterscheiden sich auch in ihrer Form. Meine sind leicht schräg und wie Mandeln. So wie Moms auch waren. Und seine sind viel runder. Ich habe in den letzten Tagen viel Zeit damit verbracht, herauszufinden, ob es Ähnlichkeiten zwischen uns gibt. Ich habe kaum welche gefunden. Ich kann nicht sagen, ob ich das gut oder schlecht finde.

»Bist du dir sicher, dass du nicht doch mitkommen willst?«, fragt er mich ohne Umschweife, die Hände tief in den Taschen seines Trenchcoats vergraben, als ich vor ihm stehenbleibe. Wer trägt schon einen Trenchcoat bei 30 Grad im Schatten? Für den Regen hätte auch ein Schirm gereicht.

»Nach Austin?« Ich schüttle den Kopf und frage mich zum tausendsten Mal, ob er auch zu Moms Beerdigung gekommen wäre, wenn er nicht wegen mir seine neue Familie in Austin hätte verlassen müssen. Weil ich seine Tochter und mit meinen 17 Jahren noch nicht volljährig bin. Ist er nur wegen mir hergekommen, um nach all der Zeit seinen Pflichten als Vater nachzukommen, oder wollte er letztendlich doch Abschied von meiner Mutter nehmen? Irgendwann hat er meine Mom so sehr geliebt, dass er sie geheiratet hat, aber seine Liebe hat nicht ausgereicht, um zu bleiben. Eigentlich will ich die Antworten gar nicht wissen. »Ich denke, es ist für uns beide besser, wenn ich das Angebot der Duttons annehme und bei ihnen wohne, bis ich meinen Abschluss gemacht habe«, stoße ich abfälliger aus, als ich es geplant hatte.

Steve zuckt zusammen, strafft die Schultern und verzieht schmerzhaft das Gesicht, um dann doch zu nicken. Vielmehr kann er auch nicht mehr machen, denn wir haben schon darüber gesprochen, dass keiner von uns sich wohlfühlen würde, wenn ich mit ihm gehen würde. Nun ja, wir haben in den knappen Worten darüber gesprochen, die wir füreinander aufbringen konnten. Die ich für ihn aufbringen konnte, ohne Dinge zu ihm zu sagen, die ihn verletzt hätten. Ich verletze niemanden gerne, nicht einmal ihn, der uns wegen einer fremden Frau verlassen hat. Der in den schwersten Monaten meines Lebens gerade genug Interesse aufgebracht hat, hin und wieder mal anzurufen oder eine Nachricht zu schreiben.

»Wenn du etwas brauchst …«, setzt er an.

»Schon gut, ich habe alles«, werfe ich schnell ein, denn ich will auf keinen Fall etwas von ihm annehmen. Mom hat mir nicht viel hinterlassen, aber Grandmas altes Haus wird zumindest ein wenig einbringen, sobald ich einen Käufer dafür gefunden habe, der sich von der in die Jahre gekommenen Fassade nicht abschrecken lässt, und ich die offenen Arztrechnungen beglichen habe. Vielleicht genügt der Rest für eine eigene Wohnung, sobald ich alt genug bin. Oder das College, sollte ich mich doch entscheiden, auf eines zu gehen. Ich werde auf eines gehen, weil Mom es sich gewünscht hat. Weil sie gesagt hat, dass ich wegen ihres dummen Todes nicht meine Träume aufgeben soll, weise ich mich selbst zurecht. Ich werde auf ein College gehen, Literatur und BWL studieren oder vielleicht doch lieber Journalismus. »Also dann«, füge ich eilig an, weil jede Sekunde länger nur unangenehmer in meiner Brust wühlt.

»Also dann«, antwortet er mit einem schweren Seufzen, reicht mir die Hand, und ich ergreife sie zögernd. Noch bevor ich feststellen kann, dass sie sich warm und weich anfühlt, zieht er mich gegen seinen Körper und legt die Arme um mich. »Es tut mir leid. Alles«, sagt er und drückt mich fest.

»Mir auch«, murmle ich gegen seinen Oberkörper gepresst und atme das würzige Deo ein, das er schon getragen hat, als ich noch ein Kind war. Dieser Geruch ist es, der meine Tränen überlaufen lässt. Diese Sekunde ist es, die mich dazu bringt, mein Herz für ihn wieder zu öffnen und die Wärme hereinzulassen, die eine Tochter für einen Vater empfinden sollte. Ich lasse es zu, dass wir eine Weile so stehen, er hält mich, ich halte ihn, aber dann verschließe ich mich wieder und trete abrupt von ihm zurück. Da ist doch zu viel zwischen uns, um in nur wenigen Minuten vollständig verzeihen zu können.

»Versprich mir, dass du dich meldest, wenn du etwas brauchst.« Er runzelt die Stirn und sein Blick wird traurig. »Oder auch einfach so. Ich würde mich freuen.«

»Okay«, ringe ich mir ab, wische über meine Wangen, um die Tränen zu beseitigen, die ich eigentlich nicht weinen wollte heute. Vielleicht melde ich mich sogar wirklich. Nicht sofort. Irgendwann.

Ich drehe mich um, bevor die Mauer um mein Herz noch weitere Risse bekommt, und gehe zurück zu Noah und Liam, die auf mich warten. Liam steigt hinten in das Auto ein, sobald er mich zurückkommen sieht. Aber Noah wartet, bis ich bei ihm bin, öffnet mir die Beifahrertür und schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. Er weiß, wann es Zeit ist, mir von seiner Stärke etwas abzugeben. »Kuchen und Kaffee. Und danach die ganze Nacht Netflix«, ordnet er an.

»Unbedingt«, sage ich, sehe noch einmal zu meinem Vater, der gerade seinen Trenchcoat auszieht, ihn zusammenfaltet und auf den Rücksitz seines Leihwagens legt. Als er aus dem Wageninnern wieder auftaucht, trifft sein Blick auf meinen, er lächelt, und zum ersten Mal, seit er nach Baytown gekommen ist, tritt etwas in sein Gesicht, das ihn nicht mehr wie einen Fremden erscheinen lässt. So etwas wie Wärme und Bedauern.