99 Rohfassungen

Das erste Kapitel bedeutet alles. Oder wie meine Lektorin und so mancher Schreibratgeber eindringlich raten: Pack den Leser schon auf Seite 1. Zieh ihn in deine Geschichte, schon mit den ersten Sätzen. Sätze wie dieser berühmte aus z. B. Stolz und Vorurteil von Jane Austen:

Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein Junggeselle im Besitz eines schönen Vermögens sich nichts mehr wünschen muss als eine Frau.

oder dieser aus Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren:

Am Rand der kleinen, kleinen Stadt lag ein alter verwahrloster Garten. In dem Garten stand ein altes Haus, und in dem Haus wohnte Pippi Langstrumpf.

Oder dieser sehr gern genutzte erste Satz in zahlreichen Büchern: Ich sterbe. Kurz, prägnant und jeder Leser fragt sich sofort: Wieso? Was ist passiert? Ich will mehr wissen. Also liest er noch den nächsten und nächsten und nächsten Satz. Und im besten Fall tappt der Leser in die Falle, die der Autor ausgelegt hat.

Genau deswegen mache ich mir immer sehr viele Gedanken um den Anfang eines Buchs. Manchmal setze ich mich an meinen Laptop und tippe drauf los und die Worte fließen nur so aus mir heraus und schon der erste Versuch kann mich überzeugen. Manchmal überzeugt dieser Versuch mich drei Wochen später aber schon nicht mehr. Und manchmal will der Einstieg mir überhaupt nicht gelingen und ich schreibe das erste Kapitel wieder und wieder neu. Das Problem dabei ist oft, dass am Ende die erste Version doch die beste war und ich es oft meiner Unsicherheit zu verdanken habe, wenn ich durch übermäßig häufige Korrekturen alles nur verschlimmbessere.

Aber der Anfang eines Buches ist eben auch so extrem wichtig, denn nach dem Cover und dem Klappentext, sind es die ersten Sätze, die über den Kauf entscheiden.

Also? Gehst du mir auf den Leim?

Absatz 1 aus All The Reasons To Forget You:

Es regnet. Ausgerechnet heute regnet es in Baytown, Texas. Dabei hätte meine Mutter sich blauen Himmel und lächelnde Gesichter gewünscht. Sie hätte sich bunte Kleider, nette Gespräche und Kuchen gewünscht. Was sie nicht gewollt hätte, sind Tränen, Mitleid und ein Pfarrer, der für sie die gleichen Worte benutzt wie vor einem Jahr für meine Freundin Sally. So war Mom eben. Eine fröhliche Frau von 39 Jahren, die viel zu früh gestorben ist. Meine Freundin und die einzige, die es geschafft hatte, mich aus dem schmerzhaften schwarzen Loch zu ziehen, in das der schreckliche Tod von Sally mich gestoßen hatte. Wer zieht mich jetzt aus dem Loch, in das mich Moms Tod gerissen hat?